Max Slevogt. Belebung einer Fantasie

von Merle Meta Kubasch

„Diese Indianer Romane habe ich in ganzen Haufen damals konsumiert und dadurch offenbar das Mittel gefunden, mich von einer erschütternden Gegenwart, die mich wehrlos machte, abzuziehen.“

Aby Warburg1

Nicht nur Aby Warburg wurde in seiner Kindheit von Abenteuergeschichten über „Cowboys und Indianer“ geprägt. Er schließt an eine Tradition an, die sich vornehmlich durch James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Erzählungen etabliert hatte, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Eine besondere Edition dieser Erzählungen ist die 1909 erschienene Luxusausgabe mit Illustrationen von Max Slevogt.2 Darin rezipiert der Künstler eine Vorstellung von Native Americans, die ihren Ursprung in Coopers Erzählungen findet und in den Wild-West-Shows an Form gewann.

James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Erzählungen

Der Stereotyp des Indianers (damit ist nicht die tatsächliche Abbildung eines Menschen einer indigenen Bevölkerung gemeint) entwickelte sich im deutschsprachigen Raum aus der Wildwest-Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts.3 Allen voran gelten James Fenimore Coopers fünf Romane – zusammengefasst als Lederstrumpf-Erzählungen – in dieser Hinsicht als maßgeblich prägend.4 Seine Figuren bewegen sich in den Geschichten zwischen der Welt der Native Americans und der Siedler in den USA.5 Während in den vorherigen amerikanischen Erzählungen „der Indianer“ ausschließlich die Rolle eines Barbaren eingenommen hatte, führte Cooper die Indianer Chingachcook und Uncas ein, die die Rolle der „letzten Edlen einer aussterbenden Rasse“ einnehmen.6 Gemeinsam mit dem der Zivilisation entfliehenden, amerikanischen Trapper Natty Bumppo (Lederstrumpf) stellen sich die drei Protagonisten gegen „barbarische Wilde“ sowie die voranschreitende Zivilisation und behandeln damit moralische Grundsätze, Werte und Normen.7

Die Figur des Indianers als Identität für die deutsche Bevölkerung

Die Figur des Indianers etablierte sich in das kulturelle Bewusstsein der deutschen Bevölkerung als Sinnbild für die Schaffung einer deutschen Identität in den Umbruchzeiten der Märzrevolution 1848/49.8 Dass eine indigene Bevölkerung als Ausgangspunkt genommen wurde, führt Christin Hansen auf die Suche nach der Abstammung, also nach einem Ursprung zurück.9 Die „Konstruktion des deutschen Indianers“, wie sie es nennt, vereinbarte die edlen Eigenschaften, die Befreiung von den äußeren Zwängen und damit in gewissen Formen der Obrigkeit.10 Und auch bei der eingangs zitierten Aussage Aby Warburgs geht es bei den „Indianergeschichten“ um eine Art Befreiung von den Umständen, die ihn umgaben.11 Weiterführend habe Friedrich Engels in den indigenen Bevölkerungen in den USA eine gleichberechtigte und von Materiellem befreite, kommunistische Gemeinschaft gesehen, die zum Vorbild genommen werden sollte.12 Oppositionell galt die Konstruktion des Indianers als unterentwickelt.13 Ihr Untergang sei also als Überwindung hin zu einer fortschrittlichen Zivilisation gesehen worden.14

Das Bild der Konstruktion des Indianers war damit in den Köpfen der deutschen Gesellschaft. Einen tatsächlichen Blick auf das abenteuerliche Leben der Cowboys und Indianer zu werfen, ermöglichten die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts florierenden Wildwest-Shows.15 Das dort gezeigte Bild vom Indianer trat damit in das kulturelle Bewusstsein der deutschen Bevölkerung und lässt sich auch in Max Slevogts Illustrationen wiederfinden.

Die Wildwest-Shows, allen voran „Buffalo Bill´s Wild West“

„Heute noch stehen wir, wie einst als Kinder, unter dem magischen Banne der Cooper’schen Lederstrumpf-Erzählungen, und Häuptlings- oder Squaw-Namen wie ‚der ‚flinke Hirsch‘, ‚die weiße Taube’ und dergl. haben für uns einen von echter Urwaldpoesie verklärten Klang.“16 So ein Zitat eines Berliner Reporters, der das Erfolgskonzept der umherreisenden Wildwest-Shows in wenige Worte fasste. Mit diesen Shows sei ein Wunsch des Publikums war geworden, so Eric Ames, denn damit habe die Vorstellung des deutschen Indianers an Materie gewonnen. Sie galten als Belebung dieser Geschichten.17 Nicht der Realitätsanspruch faszinierte also die Zuschauer, sondern die belebte Vorstellung vom Wilden Westen in ihrer eigenen Fantasie.

Vorbild der verschiedenen, zirkusähnlichen Attraktionen war die 1883 von William Frederick Cody alias Buffalo Bill entwickelte Show, der nach erfolgreicher Tournee durch die USA in Europa auftrat, davon in 14 Städten Deutschlands.18 Der zuvor als Scout der US-Armee in den Indianerkriegen und als Büffeljäger tätige US-Amerikaner hatte sich mithilfe professioneller Autoren und Publizisten zur Medienfigur entwickelt.19 Mehr als 200 Cowboys und indigene Amerikaner bildeten mit Pferden eine Showgruppe, die mit ihren Kostümen US-historische Geschichten nachspielten und dabei mit akrobatischen Kunststücken das Publikum in ihren Bann sog.20 Am 19. April 1890 trat Buffalo Bill mit seiner Show erstmals in München auf.21 Auf Grund des übermäßigen Andrangs zu dieser Attraktion ist davon auszugehen,22 dass Slevogt, der zu dieser Zeit in München lebte, nicht nur um die Show wusste, sondern wahrscheinlich sogar selbst im Publikum war. Fotos von den Shows zeigen die Native Americans mit langen Haaren und Federkränzen oder vereinzelten Federn am Hinterkopf – ein Bild, das Slevogt rezipierte.

Max Slevogt Bildsujets: Ein Kind seiner Zeit

1868 geboren, in Würzburg aufgewachsen und in München an der Kunstakademie studiert, bildeten Slevogts Arbeiten schon früh mit das ‚Fremde‘ ab.23 Mystik, literarische Werke und Musik waren seine Inspirationsquellen, aber auch seine Reise nach Ägypten 1914 bezeugt das Interesse an dem Unbekannten.24 Über eine Beschäftigung mit Geschichten von „Cowboys und Indianern“ in seiner Kindheit sind keine Quellen bekannt. Es ist aber gut möglich, dass er – wie seine Zeitgenossen – mit den Geschichten Coopers aufgewachsen war. Auch die Wiederbelebung von Coopers Erzählungen durch Karl Mays Romane ab 1893 und die Wildwest-Shows verstärkten die Präsenz des Themas in Deutschland.25

Ein Interesse am Thema bei Slevogt kann ab 1900 bezeugt werden. Ab dieser Zeit entstanden erste Studien zu Märchen und Abenteuerromanen; darunter finden sich Zeichnungen zu Gabriel Ferrys Der Waldläufer. Ein Roman von Jägern, Goldsuchern und Indianern.26 Darauf folgten Illustrationen zu den Geschichten von Sindbad der Seefahrer und Ali Baba und die 40 Räuber.27 Die vielleicht als naiv bezeichnende Begeisterung an „Cowboys und Indianer“ kann unter anderem anhand Slevogts folgenden Bemerkung anlässlich der Geburt seines Sohnes festgemacht werden: „Der Stamm der Delawaren ist um einen Krieger vermehrt! Die Squaw wohl und die ‚Malende Hand‘ sehr froh. Hugh! Hugh! Hugh!“28 Später kleidete und porträtierte er seine Kinder mit Federschmuck, die vermutlich zu Fasching als Indianer gekleidet waren.29 Als Höhepunkt seines grafischen Schaffens gelten seine 312 Blätter zu James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Erzählungen, die 1909 als Prachtausgabe von Paul Cassirer verlegt wurden.60 Das Konvolut besteht aus 165 Einzel-Lithografien, 95 Textillustrationen und 52 ganzseitigen Bildern.31

Slevogts Tanzdarstellungen

Die auf Seite 257 gezeigte Grafik in dieser Edition spiegelt Slevogts Schaffen in besonderer Hinsicht: Lediglich mit Lendenschurz bekleidet und mit einzelnen Federn am Kopf beschmückt befinden sich mehrere Männer vom Betrachter abgekehrt vor einer Feuerquelle. Die skizzenartige Strichführung lässt vier Männer in verschiedenen Haltungen klar vernehmen; links im Hintergrund sind weitere Männer durch grobe Striche angedeutet. Während rechts ein stehender Mann sich mit erhobenen Armen vor das Feuer beugt und einen Stock über dieses hält sowie im Zentrum ein anderer vor dem Feuer hockt, ist die Gruppe links in reger Bewegung: Gebeugt, Knie hebend oder im Ausfallschritt dargestellt, befinden sie sich in einer scheinbar unkontrollierten Tanzbewegungen.

Nach Thomas Andratschke bemühte sich Max Slevogt als Impressionist den Augenblick einzufangen und habe deswegen seine Werke zügig – nach Slevogts eigener Aussage innerhalb „einer Zigarettenlänge“ – geschaffen.32 Dieser Malweise entsprechend interessierte er sich für Motive, in denen Bewegung stattfand wie TänzerInnen verschiedener Herkunft.33 So z.B. Slevogts Gemälde einer tanzenden Argentinierin, deren Herkunft sich in der stereotypischen Kleidung und ihrer Haltung widerspiegelt: Mit überlappenden Volants in Flamenco-Haltung präsentiert sie sich als lateinamerikanische Tänzerin. Ähnlich mag es sich auch bei Slevogts tanzenden „Indianern“ verhalten, wobei der Künstler die ihm zur Verfügung stehenden Abbildungen genutzt hat: Ein Zusammenspiel von den bei Buffalo Bills oder auch Carl Hagenbecks gezeigten „Indianern“ vermischte sich mit dem von Cooper beschriebenen Bild, wodurch seine Interpretation des deutschen Stereotyps der Indianer entstand. In Anschluss an Eric Ames beschriebener Belebung der Fantasie durch die Shows ist zu schließen, dass Max Slevogt in seinen Zeichnungen seine eigenen Fantasien zu Nordamerikas indigener Bevölkerung manifestierte.

  1. Tremel, Martin, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig (Hrsg.): Aby Warburg. Werke in einem Band, Berlin 2010, S. 576.
  2. Cooper, James Fenimore: Lederstrumpf-Erzählungen, übersetzt und bearbeitet von Karl Federn, Ber-lin 1909.
  3. Hansen, Christin: Die Konstruktion des (deutschen) Indianers, in: Jahrbuch des Forums Vormärz For-schung, Nr. 23 (2018), S. 355.
  4. McCloskey, Barbara: Von der Frontier zum Wilden Westen. Deutsche Künstler, nordamerikanische Indianer und die Inszenierung von Rasse und Nation im 19. und frühen 10. Jahrhundert, in: Ausst.kat. I Like America, Frankfurt am Main (Schirn Kunsthalle), München 2006, S. 298–321, hier: S. 301.
  5. Cooper 1909 (wie Anm. 2), S. 1 ff.
  6. Hansen, Christin: Die Geburtsstunde des deutschen Indianers, URL: http://www.stereotyp-und-geschichte.de/die-geburtsstunde-des-deutschen-indianers/ (abgerufen am 29.07.2020).
  7. Ebd.
  8. Hansen 2018 (wie Anm. 3), S. 355.
  9. Ebd., S. 358.
  10. Hansen (wie Anm. 6).
  11. Tremel 2010 (wie Anm. 1), S. 576.
  12. McCloskey 2006 (wie Anm. 4), S. 299.
  13. Ebd.
  14. Ebd.
  15. Ames, Eric: Cooper-Welten. Zur Rezeption der Indianer-Truppen in Deutschland. 1885–1910, in: Ausst.kat. I Like America, Frankfurt am Main (Schirn Kunsthalle), München 2006, S. 212–229, hier: S. 217.
  16. Ebd., S. 213.
  17. Ebd., S. 222.
  18. Ebd., S. 218.
  19. Ebd., S. 219.
  20. Ebd., S. 217.
  21. Ebd. S. 218.
  22. Ames 2006 (wie Anm. 15), S. 218.
  23. Andratschke, Thomas: Der doppelte Blick. Die Kunst Max Slevogts, in: Ausst.kat. Max Slevogt. Eine Retrospektive zum 150. Geburtstag, Hannover (Landesmuseum Hannover), Petersberg 2018, S. 1–11, hier: S. 1.
  24. Feulner, Caroline: Max Slevogt, in: Allgemeines Künstlerlexikon, hrsg. von Andreas Beyer [u.a.], Bd. CIV, 2019 [elektr. Ressource], URL: https://db-degruyter-com.proxy.ub.uni-frankfurt.de/view/AKL/_00182093?ebscoeds= (23.07.2020).
  25. Kreis, Karl Markus: Deutsch-Wildwest. Die Erfindung des definitiven Indianers durch Karl May, in: Ausst.kat. I Like America, Frankfurt am Main (Schirn Kunsthalle), München 2006, S. 249–273, hier: S. 250.
  26. Wilhelm, Hermann: München und der Wilde Westen, München 2017, S. 167.
  27. Ebd.
  28. Zitiert nach Wilhelm 2017 [wie Anm. 26], S. 168.
  29. McCloskey 2006 [wie Anm. 4], S. 311.
  30. Ebd., S. 167.
  31. Ebd.
  32. Zitiert nach Andratschke 2018 [wie Anm. 23], S. 1.
  33. Ebd.