Aby Warburgs ethnologisches Netzwerk

von Paula Günther

„Warburg zeigte sich als ein Forscher, der Interdisziplinarität nicht als ein Blütenpflücken begriff, sondern als ein Durchpflücken des fremden Feldes bis zum Verlust der eigenen Standfläche.“

Horst Bredekamp, Aby Warburg, der Indianer (2019) 1

Dass der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) sich selbst als Kulturhistoriker bezeichnete,2 liegt vor allem an Warburgs unerschöpflicher interdisziplinären Arbeitsweise. Kunstwerke waren für Warburg eng verknüpft mit den kulturellen Kontexten, die sie hervorbrachten, vermittelten und bewahrten. Sein letztes, unvollendet gebliebenes Projekt, der Bilderatlas Mnemosyne, ist einschlägiges Zeugnis von Warburgs Suche nach den Verbindungen von visuellen Ausdrücken und kulturellen Bezugsrahmen.3 Schon in seinem ersten Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie an der Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn besuchte Warburg 1886/87 auch Vorlesungen des Religionswissenschaftlers und Philologe Hermann Usener, dessen Symboltheorie und interdisziplinäre Arbeitsweise ihn nachträglich prägten.4 Als indirekter Ausdruck dieser Prägung kann das Interesse an Kulturen, in denen das aus europäischer Sicht ‚Mythische‘ von Natur und Geist noch immer Teil der Weltanschauung und des Glaubens war, bezeichnet werden – ein Interesse, dem Warburg durch eine Hinwendung zur Ethnologie und ihren Forschungsfeldern auch ganz praktisch folgen konnte. Aus der Erforschung der Pueblo-Gruppen im Südwesten Nordamerikas, also der Beobachtung und Involvierung in ihre kulturellen Bräuche, erhoffte sich Warburg eine Erklärung für den Ursprung und die Entwicklung moderner Zivilisationen.5

Für die Umsetzung eines solchen Vorhabens bedurfte es eines Netzwerks an erfahrenen Ethnologen, die Warburg nicht nur methodisch, sondern fachlich wie auch organisatorisch unterstützen konnten. Während seiner Reise durch Nordamerika 1895/96 lernte er durch Moritz Loeb, den Bruder seiner Schwägerin, den namhaften und angesehenen Ethnologen Franz Boas kennen. Die Beziehung zwischen den beiden Forschern, die sich nach diesem persönlichen Kontakt vor allem in Form von kontinuierlichen Briefwechseln festigte, zeugt sowohl von Warburgs Ersuchen nach ethnologischen Arbeitsweisen, als auch von einem Dialog der wissenschaftlichen Disziplinen.6 Wie Bredekamp betont, war es Boas, „[…] der Warburg den Weg zu den herausragenden Forschern ebnete.“7 In der Smithsonian Institution in Washington, D.C. begegnete Warburg etwa dem Archäologen Adolf Bandelier, dem Ethnologen Frank Hamilton Cushing sowie dem Ethnologen James Mooney – allesamt etablierte amerikanische Forscher, „[…] die Warburg halfen, sich wissenschaftlich vorzubereiten und seine Eindrücke zu fundieren.“8 Das fachliche Wissen eignete sich Warburg neben diesen Begegnungen vor allem durch die Lektüre ethnologischer Schriften an, auf die er durch seine neuen Bekanntschaften und deren Hinweise auch nach seiner Reise aufmerksam gemacht wurde.9 Während seiner kurzen Feldforschung war insbesondere das Treffen mit dem MennonitenPastor und Ethnologen Heinrich (Henry) Richert Voth in Oraibi (Third Mesa)von Bedeutung, da Warburg durch ihn die Möglichkeit bekam, dem Hemis-Katsina-Tanz beizuwohnen und dieses Ereignis fotografisch zu dokumentieren.10 Der Sammler und Händler Thomas Varker Keam, den Warburg in Keams Canyon, am östlichen Rand der Hopi-Reservation kennenlernte, hatte sich vor allem durch sein Wissen um die Sprache der Hopi und durch den Respekt ihnen und ihrer Kultur gegenüber in Warburgs Gedächtnis eingeprägt.11 Die Bekanntschaft mit Jesse Walter Fewkes, dessen ethnologische Forschung ebenfalls in New Mexiko und Arizona durch Begegnungen mit Pueblo-Gruppen begann, pflegte Warburg nach seiner Amerika-Reise ebenfalls sehr intensiv, war dieser doch die treibende Kraft für Warburgs weitere Beschäftigung mit ethnologischen Fragen.12 Mit seiner Rückkehr nach Berlin widmete sich Warburg weiterhin der Ethnologie und profitierte dabei auch dort von ethnologischen Experten, „[…], die seine Suche nach Fremderfahrung und Diversität teilten.“13 Einen noch größeren Zugriff auf ethnologisches Fachwissen und die wissenschaftlichen Diskurse dieser Disziplin erhielt Warburg höchst wahrscheinlich durch seinen Eintritt in die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte im Jahr 1897.14

In Berlin knüpfte Warburg unter anderem Verbindungen zu dem Ethnologen Karl von den Steinen, der ihm von seinen Erforschungen der indigenen brasilianischen Kulturen berichtete, und zu Adolf Bastian, dem Gründungsdirektor des Museums für Völkerkunde in Berlin. Er las Abhandlungen von Zelia Nuttall, einer Archäologin und Ethnologin, die sich vor allem mit vorgeschichtlichen mexikanischen Kulturen auseinandersetzte und übernahm Edward Burnett Tylers Theorien zur Begrifflichkeit des „Primitiven“. Warburgs Briefaustausch mit dem Ethnologen Theodor Wilhelm Danzel zeugt von einer tiefen Verbundenheit der beiden Forscher, die so weit ging, dass Warburg Danzel ein Reisestipendium nach Westamerika vermitteln konnte.15 Dieser wiederum stellte den Kontakt zu Gladys A. Reichard, einer Schülerin von Franz Boas, her, mit der Warburg fortan „[i]m kontinuierlichen Austausch […] eine ungewöhnliche Inspirationsquelle“ fand.16

Warburgs Interesse an kulturellen Phänomenen führte ihn zu einem beachtlichen Netzwerk an ethnologischen Kontakten, deren Expertise und eigene Vernetzung in der ethnologischen Fachwelt ihm in Hinblick auf seine eigenen Forschungen zugutekamen. Zwar scheiterte Warburg an einer Habilitation, die Kunstgeschichte mit Ethnologie verbunden hätte, allerdings war er zeit seines Lebens weiterhin im Austausch mit seinem ethnologischen Kollegenkreis und in eigene Forschungsinteressen auf diesem – wohl nur zureichend als kulturhistorisch beschreibbaren – Gebiet involviert.16

  1. Bredekamp, Horst: Aby Warburg, der Indianer. Berliner Erkundungen einer liberalen Ethnologie, Berlin 2019, S. 62.
  2. Vgl. Warburg, Aby: Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika (Vortrag vom 21. April 1923), in: Perdita Ladwig, Martin Treml und Sigrid Weigel (Hrsg.): Aby Warburg. Werke in einem Band, Berlin 2010, S. 524–566, hier: S. 525.
  3. Einen sehr guten Überblick zu diesem Projekt gibt u.a. die Publikation von Christopher D. Johnson: Memory, Metaphor, and Aby Warburg’s Atlas of Images, New York 2012.
  4. Vgl. Targia, Giovanna: „Einverseelung“, „Unbewusstes Gedächtnis“ und Aby Warburgs Mnemosyne, in: Felix Jäger, Yasuhiro Sakamoto und Jun Tanaka (Hrsg.): Bilder als Denkformen. Bildwissenschaftli-che Dialoge zwischen Japan und Deutschland. Berlin 2020, S. 43-56, hier: S. 54, En 11 und Lloyd-Jones, Hugh: Usener’s Influence [Rezension von:] Kany, Roland: Mnemosyne als Programm: Ge-schichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benja-min, Tübingen 1987, in: The Classical Review. New Series, Bd. 38, Nr. 1, Cambridge University Press [elektr. Ressource] 1988, S. 136–138, hier: S. 136.
  5. Vgl. ebd.
  6. Vgl. Cestelli Guidi, Benedetta: Aby Warburg and Franz Boas. Two Letters from the Warburg Archive. The Correspondence Between Franz Boas and Aby Warburg (1924–1925), in: Anthropology and Aest-hetics, Nr. 52, 2007, S. 221–230.
  7. Bredekamp 2019 (wie Anm. 1), S. 17 (Bredekamp bezieht sich mit dieser Aussage auf Wedepohl, Claudia: Aby Warburg, Heinrich Voth and the Study of Native American Religious Ceremonies, in: Aby Warburg and Mexiko [im Druck]).
  8. Ebd., S. 19 (Bredekamp bezieht sich mit dieser Aussage auf Warburg, Aby: Eine Reise durch das Gebiet der Pueblo Indianer in Neu-Mexiko und Arizona, in: Perdita Ladwig, Martin Treml und Sigrid Weigel (Hrsg.): Aby Warburg. Werke in einem Band, Berlin 2010, S. 508–523, hier: S. 508).
  9. Vgl. ebd., S. 22.
  10. Vgl. ebd., S. 31–32. Manche Forscher halten es für wahrscheinlich, dass nicht Warburg, sondern Voth mit Warburgs Kamera die Aufnahmen machte, vgl. Cestelli Guidi, Benedetta; Mann, Nicholas (Hrsg.): Grenzerweiterungen. Aby Warburg in Amerika 1895-1896, Hamburg/München 1999, S. 45. Siehe für ausführlichere Überlegungen zu Warburgs fotografischen Tätigkeiten auch den Essay von Sofia Simeth: Aby Warburgs Amerika-Reise und die vor Ort entstandenen Fotografien, der ebenfalls im Rahmen der virtuellen Ausstellung Die Wanderer: Katsinam, Tithu und Aby Warburg entstand. URL: https://diewanderer.info/essays/aby-warburgs-amerika-reise-und-die-vor-ort-entstandenen-fotografien (15.02.21).
  11. Vgl. Bredekamp 2019 (wie Anm. 1), S. 28. Keams respektvolles Verhalten gegenüber den Pueblo-Indianern hielt ihn wohlgemerkt nicht davon ab, mit den von ihnen erworbenen Artefakte zu handeln und eine eigene Sammlung an Artefakten aufzubauen, die sich heute zerstreut in Museumssammlun-gen auf der ganzen Welt befinden, vgl. https://www.britishmuseum.org/collection/term/BIOG190938 (06.02.21).
  12. Vgl. Hough, Walter: Biographical Memoir of Jesse Walter Fewkes, [elektr. Ressource] 1932, S. 262 sowie Bredekamp 2019 (wie Anm. 1), S. 36.
  13. Ebd., S. 13.
  14. Vgl. ebd., S. 46.
  15. Vgl. ebd., S. 48; 53; 70; 96f.; 109.
  16. Ebd., S. 111.
  17. Vgl. ebd., S. 50–54.
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