Marsden Hartley – auf der Suche nach neuen Ausdrucksweisen und dem inneren Ich

von Elaine Breidenstein

1877 im Neuenglandstaat Maine geboren, entwickelte der junge Künstler schnell ein Interesse an dem Spirituellen und dem Mystischen. Er las Texte von Dichtern und Philosophen wie Withman und Emerson, deren philosophische Ansätze ihn zeitlebens begleiten sollten und versuchte durch seine Kunst seinen Gedankengängen Ausdruck zu verleihen. In seiner transzendentalen Denkweise suchte er stets nach dem Sinn des Lebens und ließ sich dabei von den unterschiedlichsten Dingen leiten und inspirieren. Mit dem Grundgedanken „Kunst bedeutet einen traurigen und leidvollen Kampf gegen konventionelle Ideen“1 verschrieb er sich der experimentellen Kunst, deren Wurzeln er stets im Reellen verankert sah.2
Obwohl in Deutschland nahezu in Vergessenheit geraten, gilt Marsden Hartleys Œuvre, das von kraftvollen Farben und hypnotisierenden Kompositionen geprägt ist, heute doch als Höhepunkt des frühen amerikanischen Modernismus.3

Ein American abroad

Hartleys Berliner Bilder zeugen von einer radikalen Abstraktion und einer starken symbolischen Aufladung.4 Vom Zeitgeist des frühen 20. Jahrhundert getrieben, brach er 1912 nach Paris auf, um die Alte Welt und seine künstlerischen Idole der europäischen Moderne zu erkunden, neue Seherfahrungen zu sammeln und seine künstlerische Ausbildung dadurch zu verfeinern. Die großen europäischen Künstler wie Picasso, Cézanne, Matisse zogen viele amerikanischen Künstler nach Europa. Hartleys Bewunderung ihnen gegenüber und die Erzählungen über die europäischen Kunstmetropolen seiner Bekannten sowie die damalige Auffassung, dass die amerikanische Kunst gegenüber der europäischen rückständig sei, veranlassten ihn zu dieser Reise. Konnte doch kein namhafter Künstler aus ihm werden, wenn er nicht vor Ort die Meister studiert habe – keine moderne Formensprache entstehen ohne europäische Inspiration! Ein Gedanke, der sich erst um den ersten Weltkrieg herum wandeln sollte, als Amerika die Einstellung insbesondere gegenüber deutscher Kunst änderte und die eigene Kunst vermehrt als versteckten Schatz ansah, den es zu bewahren gelte. Europa als Metropole des Kunstschaffens blieb jedoch nach wie vor in den Köpfen verankert und es bewahrheitete sich, dass auch Hartley erst durch seine Reise zu seiner späteren Formensprache und künstlerischen Ausdrucksweise gelang.5

Die Berliner Liebe

Während seines Aufenthalts in Paris lernte Hartley den deutschen Offizier Karl von Freyburg kennen. Er besuchte ihn im Januar 1913 in Berlin und beschloss kurz darauf für einige Zeit dort zu leben. In der deutschen Hauptstadt fand Hartley von 1913 bis 1915 seine neue Heimat. Es entfachte eine Berliner Liebe in ihm – die Liebe zur deutschen Hauptstadt selbst und deren Ruhe in der Vorkriegszeit, zu bunten Flaggen und patriotischen Gesängen, zur deutschen Volkskunst. Eine Liebe, die der deutschen Bevölkerung im Allgemeinen und zu guter Letzt seinem Offizier galt und die seine Werke maßgeblich beeinflusste. In den späteren Werken seines Aufenthaltes spielt das Berliner Alltagsbild mit vorherrschender Symbolik aus Militärzeichen, Zahlen und Flaggen eine wichtige Rolle, die er zu neuartigen Kompositionen zusammenfügte.6 Auch intellektuell fand Hartley in der deutschen Hauptstadt neue Impulse: Er laß Texte von Kandinsky und dem Blauen Reiter und tauschte sich mit Künstlern wie Franz Marc aus. Der vorher gebildeten Essenz in sich – der amerikanischen Mystik – fügte er so neues Gedankengut hinzu.7

Amerika-Serie

Im Spätfrühling / Sommer des Jahres 1914 arbeitete Hartley an einer Serie von Werken, die er unter dem Namen Amerika zusammenfasste. Zu sehen sind spiegelbildlich aufgebaute Kompositionen, kräftige Farben im starken Kontrast zueinander und vor allem immer wiederkehrende Ornamente, die an jene der Ureinwohner Nordamerikas erinnern: nichtgegenständliche Formen wie Zickzack- und Wellenlinien, konzentrische Kreise, aber auch Flügelpaare und Vögel, die an den mystischen Donnervogel erinnern, Kanus und die Ureinwohner mit prächtigem Federschmuck selbst, die um das meist in der Mitte zentral angesiedelte Tipi gruppiert sind. Die Verwendung intensiver Primärfarben und die dichte Gestaltung der sich oft wiederholenden Motive erinnert dabei an Textilarbeiten – Arbeiten, die zusammen mit vielen weiteren kunstvoll verzierten Exponaten in den Völkerkunde-Museen in New York, Paris und Berlin ausgestellt waren und Hartley als Inspirationsquelle dienten.8

Indigene Völker im Trend

Mit seiner Amerika-Serie traf der Künstler den Nerv der Zeit. Längst war das Interesse an primitiver Kunst entfacht und namhafte Künstler wie Picasso, Braque und Matisse bedienten sich an Vorbildern aus der Volkskunst verschiedener Völker. Der Wunsch, nach all den Modernisierungen in der Kunst zu einer einfachen und doch so ausdrucksstarken Bildsprache zurückzukehren, war weit verbreitet und man versuchte sich an verschiedenen Interpretationsansätzen. Während seine bekannten, europäischen Künstlerkollegen neue Impulse vor allem aus der afrikanischen Volkskunst zogen, beschäftige sich der Amerikaner mit jener seines Heimatlandes. So können seine Werke durchaus als künstlerische Reaktion auf seine zuvor getätigte fünfmonatige Amerika-Reise angesehen werden. Als imperialistische Macht unterjochte die USA seit den 1870ern weniger fremde als mehr ihre eigenen Ureinwohner und erklärte gegen Ende des 19. Jahrhunderts den gesamten nordamerikanischen Kontinent – die ‚Wildnis‘ – als besiedelt und erobert. Der romantische Mythos des aussterbenden Ureinwohners Nordamerikas verbreitete sich wie Lauffeuer, bot Nährstoff für Künstler und Schriftsteller, die die Kultur für die Nachwelt festzuhalten versuchten und breitete sich weit über die Landesgrenzen hinaus aus.
Hartleys Heimatbesuch fällt zeitlich inmitten des Höhepunktes des Phänomens: Längst war die Thematik zu der breiten Gesellschaft durchgedrungen. Nicht nur Kunstsammler eigneten sich Objekte an, in vielen Wohnungen wurden ganze Wände mit einem Sammelsurium an Gegenständen und Bildern verziert und thematisch passende Dekorationen verwendet.9
Interessanter Weise vermuten verschiedene Kunsthistoriker*innen, dass dieser Rückbezug und die Beliebtheit der Volkskunst nordamerikanischer Stämme mit dem größer werdenden Einfluss der Afroamerikaner im Kulturbereich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammenfällt und somit als eine Art Abwehrreaktion gesehen werden kann, bei der versucht wurde, eine neue amerikanische Ästhetik, ausgehend etwa von den Traditionen der Hopi, zu entwerfen.10

Als Amerikaner unter Deutschen

Aus diesem Umfeld heraus kam Hartley zurück nach Deutschland, wo ebenfalls eine Präsenz von Erzählungen und Mythen über indigene Völker durch Werbekampagnen zu spüren war, die nicht zuletzt auch von Persönlichkeiten wie Karl May und seinen Geschichten oder den sich großer Beliebtheit erfreuenden Wandershows verstärkt wurde. Dadurch wurde das eurozentrische Bild des Ureinwohners Nordamerikas maßgeblich geprägt. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der Künstler Marktwert und persönliche Erfahrung verband als er sich zu seinen Kompositionen entschied: Bereits Anfang des Jahrzehnts hatten deutsche Künstler wie August Macke und Ernst Ludwig Kirchner die Thematik erfolgreich in ihre Werke mit einbezogen. Hartley, der stets auf finanzielle Unterstützung seines Galeristen aus Übersee angewiesen war und verzweifelt nach künstlerischem Erfolg strebte, konnte sich auf seine Herkunft beziehen und somit den Werken eine gewisse (wenn auch absurde) Authentizität verleihen.11 Denn er war selbst stets der Auffassung die persönliche Erfahrung sei das Maß künstlerischer Qualität und die Basis und Kern seines kreativen Schaffungsprozesses.12 Als Amerikaner in Deutschland versuchte er sich so von der Masse abzugrenzen und zu positionieren. Zwar war der Sohn englischer Einwanderer fernab einer reellen genealogischen Verbindung zu den Ureinwohnern Nordamerikas, wurde jedoch aufgrund seiner Heimat eher mit einer solchen Herkunft assoziiert als sein deutsches Umfeld.

Der „wahrhaftige Ausdruck menschlicher Würde“

Seiner spirituellen Auffassungen geschuldet fühlte sich der Künstler zudem mit den Ureinwohnern verstandesmäßig verbunden und bewunderte insbesondere ihre enge Beziehung zur Umwelt. Seine Faszination geht dabei so weit, dass er nach seiner Rückkehr nach Berlin im November 1914 in einem Brief an seinen Galeristen äußert: „Manchmal wäre ich gerne ein Indianer – ich könnte mein Gesicht bemalten mit den Symbolen dieses Volkes, das ich bewundere, in den Westen gehen und mich für immer der Sonne zuwenden – das wäre der wahrhaftige Ausdruck menschlicher Würde.“13 Seine Werke wirken im Kontext dieses Zitates wie Abbilder dieser tiefen Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, denn: dem Berlin der Kriegszeit stand die romantische Auffassung der natürlichen, unverfälschten und authentischen Stämme Nordamerikas entgegen, die Hartley immer mehr zu schätzen vermochte und die ihm eine künstlerische Flucht aus den turbulenten Zeiten ermöglichte.14 So verbanden seine letzten Werke der Amerika Serie den preußischen, historischen Hintergrund einer von Militärsymbolen, Fahnen und Trubel geprägten deutschen Hauptstadt mit der Sehnsucht nach der Zuwendung zur Sonne Nordamerikas.
Es waren mit Sicherheit einige dieser Faktoren, die im Zusammenspiel zur Entstehung von Marsden Hartleys Amerika-Serie beitrugen. Seine ausdrucksstarken, symmetrischen Kompositionen versprühen jedenfalls auch heute noch etwas Mystisches, Geheimnisvolles und Hypnotisierendes, das die Betrachter*innen in einen Bann zieht und vor ein Rätsel stellt. Ein Rätsel, das nicht durch das Werk gelöst werden kann, denn wie Hartley selbst sagte: „True art cannot explain itself“.15

  1. Scholz, Dieter: Marsden Hartley in Berlin, in: Ausst.kat. Marsden Hartley. Die deutschen Bilder 1913–1915, Berlin/Los Angeles (Neue Nationalgalerie/Los Angeles County Museum of Art), Köln 2014, S. 18–63, hier: S. 59.
  2. McDonnell, Patricia: Dictated by Life: Spirituality in the Art of Marsden Hartley and Wassily Kandin-sky 1910–1915 in: Archives of American Art Journal, Nr. 29 (1989), S. 27–34, hier: S. 31–33.
  3. Ebd., S. 27.
  4. Fort, Ilene Susan: Marsden Hartleys spirituelle Entwicklung und die deutschen Bilder, in: Ausst.kat. Marsden Hartley. Die deutschen Bilder 1913–1915, Berlin/Los Angeles (Neue Nationalgalerie/Los Ange-les County Museum of Art), Köln 2014, S. 104–127, hier: S. 113.
  5. Pooth, Alexia: Singulär im Kollektiv – Marsden Hartley und die Tradition der amerikanischen Künst-lerreise nach Europa, in: Ausst.kat. Marsden Hartley. Die deutschen Bilder 1913–1915, Berlin/Los An-geles (Neue Nationalgalerie/Los Angeles County Museum of Art), Köln 2014, S. 192–203, hier: S. 195.
  6. James, Merlin: Marsden Hartley. Berlin and Los Angeles in: The Burlington Magazine, Nr. 1340 (Nov. 2014), S. 781–782, hier: S. 781.
  7. McDonnell 1989 (wie Anm. 2), S. 27–34, hier: S. 29.
  8. Scholz 2014 (wie Anm. 1), S. 18–63, hier S. 53; Weißbrich, Thomas: Das Ende der Parade – Marsden Hartley und das preußische Militär, S. 128–139, hier: S. 129.
  9. Fort 2014 (wie Anm. 4), S. 104–127, hier: S. 119f.
  10. Lange, Barbara: Indianer sein. Von der Sehnsucht nach dynamischer Existenz bei Aby Warburg und Marsden Hartley, in: Änne Söll und Gerald Schröder (Hrsg.): Der Mann in der Krise? Visualisierungen von Männlichkeit im 20. und 21. Jahrhundert, Köln 2015, S. 19-36, hier: S. 34.
  11. Ebd., S. 31.
  12. McDonnell 1989 (wie Anm. 2), S. 27-34, hier: S. 31.
  13. Fort 2014 (wie Anm. 4), S. 104–127, hier: S. 118.
  14. Ebd., S. 119.
  15. McDonnell 1989 (wie Anm. 2), S. 27-34, hier: S. 30.
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