Andre Breton und seine Katsina-Sammlung
von Ali Hwajeh
Die Sammeltätigkeit von Kunstobjekten und Artefakten mit subjektivem Wert ist keine Erfindung der surrealistischen Philosophie, sondern geht bis in die frühe Neuzeit in Europa zurück. Naturalia und Artificialia waren sowohl in den Studiolo der italienischen Renaissancepalazzi als auch in Wunderkammern der deutschen Patrizierhäuser zu finden. Durch ihre „mysteriöse Natur“ sollten die einzelnen Objekte dieser Sammlungen dem rational geprägten Denken ein besseres Verständnis über die Natur Gottes ermöglichen. Sie galten daher als Mittel der Bildung. Jedoch änderte sich der Sinn der Sammlungen mit der Verbreitung der empirisch geprägten Wissenschaft, die vor allem der Rationalisierung der Welt diente. Die gesammelten Objekte wurden daher nach ihrer Funktion in der Wissenschaft klassifiziert.1
In dem folgenden Text wird der Versuch unternommen zu überprüfen, inwiefern sich die Sammlung des Surrealisten André Breton durch ihre Vielfalt, ihre Ablehnung rationaler Klassifikationen und ihre Bevorzugung des Geheimnisvollen über das Verstandene in die Nachfolge der Wunderkammern der frühen Neuzeit einfügt. Obwohl einige Objekte seiner Sammlung gleicher Art oder Herkunft nebeneinander standen (wie die Katsina-Puppen der Hopi, die in einer pyramidenartigen Formation an der Wand seines Büros angeordnet waren), folgte die Sammlung des Dichters keiner nach Kategorien geordneten Präsentation, sondern entsprach mehr einer surrealistischen Ästhetik, die in der Theorie des Objective Chance verankert ist. Die Surrealisten verstanden Kunst als etwas Kollektives und waren der Meinung, dass das Kennenlernen des Selbst ein gemeinschaftlicher Akt sei. Dies führte sie zu dem Verständnis, dass ihre Handlungen, Entscheidungen und Umgebung sowie alltägliche Begegnungen und Zufallsbefunde durch das Unbewusste beeinflusst werden. Jedes Objekt also, so die Theorie, sei bereits die existierende Verkörperung innerer Wünsche, die nur in einer zufälligen Begegnung gefunden werden müsse.2
Zur Zeit seines Tods verfügte Breton über mehr als 15.000 Gegenstände: Kunstwerke und Naturobjekte, Bücher, Manuskripte und andere verschiedene Kuriositäten und Ephemera, und darunter natürlich die Katsina-Puppen der Hopi. Dieses Interesse an der Kunst indigener Kulturen verzeichneten verschiedene künstlerische Strömungen des frühen 20 Jahrhunderts: Während Fauvisten, Kubisten und Expressionisten sich mit afrikanischen Masken und Figuren auseinandersetzten, befassten sich Surrealisten, vor allem Andre Breton und Max Ernst, mit der indigenen Bevölkerung Nordamerikas und in erster Linie mit den Hopi in Arizona und New Mexico. Breton war so stark an der Kultur der Hopi interessiert, dass er 1945 verschiedene Hopi-Reservate besuchte.3
Die Katsina-Puppen mussten dem Dichter schon 1927 bekannt gewesen sein, denn er veröffentliche im Oktoberheft 1927 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift La Revolution Surrealiste eine Katsina-Darstellung neben einem Cadavre exquis.4 Seine Reise in die Hopi-Reservate verstärkte die Faszination Bretons für die Kultur der indigenen Bevölkerung Nordamerikas. Er empfand eine tiefe Verbundenheit mit den Hopi, über sie er sich selbst folgendermaßen äußerte:
„Vor allem habe ich hier in den USA einen meiner größten Wünsche befriedigen können, nämlich mich den Indianern zu nähern, und unter ihnen im Besonderen den Pueblo-Indianer (Hopi und Zuni), deren Mythologie und Kunst mich in besonderem Maße anziehen. Ich habe die Idee nicht aufgegeben, ausführlich meine sehr lebendigen Eindrücke darzulegen, die ich in ihren Dörfern (Shungopavi, Walpi, Zuni, Acoma) empfangen habe, wo ich mich ihrer Würde und ihres unveräußerlichen Genius versichern konnte, der in einem so tiefen und erschütternden Kontrast zu den miserablen Bedingungen steht, die man ihnen bereitet. Ich verstehe nicht, dass der Elan der Gerechtigkeit und die Wiedergutmachung, den der Weiße manchmal dem Schwarzen oder Gelben entgegenbringt, mehr und mehr den Indianer ausschließt, der so viele Zeugnisse seines kreativen Potentials gegeben hat, und der bei weitem am meisten Beraubte geblieben ist“ 5
Dieses Zitat weist darauf hin, dass es Breton während dieser Reise in erster Linie nicht um das Erwerben von Objekten, sondern um ein emotionales Kennenlernen der Hopi-Kultur ging. Im Zuge dessen nahm er an Tanzzeremonien teil, machte sich mit dem Leben und der Mythologie der Hopi vertraut, und lernte über die Katsina-Figuren, sodass er über einige der von ihm erworbenen tithu sicher Auskunft geben konnte. Allerdings ist es nicht überraschend, dass der Dichter sich damals eine umfangreiche tithu-Sammlung zulegte,6 denn, wie erwähnt, sammelten die Surrealisten ihre Objekte nicht nach Typ oder Kategorie, sondern aufgrund der subjektiven Begegnungserfahrung. Das breite Spektrum seiner Sammlung beruht möglicherweise darauf, dass Objekte für ihn einen ästhetischen und auch theoretischen Wert unter dem Deckmantel des Schicksals und des Begehrens hatten, wie es in der Theorie des objektiven Zufalls festgelegt ist. Die tithu-Sammlung ließe sich also als Resultat seines tiefen Verbundenheitsgefühls mit den Hopi betrachten.
Diese Sensibilität des Dichters anderen Kulturen gegenüber kann man aber in Frage stellen. Denn seine kritischen, politischen Äußerungen dem französischen Kolonialstaat gegenüber widersprechen seinem Sammeltrieb, der die volle Ausdehnung dieses Staats reflektiert. Es müsste darüber nachgedacht werden, ob Breton als Metapher des Surrealismus-Kolonialismus-Verhältnis betrachtet werden kann: Einerseits spricht er für die Kolonialisierten; andererseits profitiert er davon, indem seine Sammlung und die surrealistischen Sammlungen generell, Objekte aus Orten innerhalb der französischen Kolonialstaaten beinhalteten.7
Ein anders Problem stellt sein Verhältnis zu dem monetären Wert der Objekte dar, während er selbst immer beim Erwerb ausschließlich von dem poetischen Wert sprach.8 Es besteht jedoch kaum Zweifel daran, dass er selbst seine Sammlung nicht als Investition verstanden hat, denn, abgesehen von einem Fall, lässt sich in dem Leben von Breton kein Verkauf von Sammlungsobjekten nachweisen. Sehr wahrscheinlich, war es in der Tat der poetische Wert der Dinge, vor allem der außereuropäischen Artefakte und Objekte, der dem Dichter wichtig gewesen ist, aber kann er (der poetische Wert) als eine gültige Rechtfertigung bezeichnet werden, die Objekte aus ihrem ursprünglichen, kulturellen Kontext zu entfernen? Als ein Beispiel sei hier Bretons Verteidigung des Schriftstellers Andre Malraux zu nennen, der vorhatte, einige Khmer-Statuen aus Kambodscha zu stehlen.9 Jean-Claude Blachere stellt Bretons widersprüchliche Haltung gegenüber diesen Objekten als ein Dilemma dar, das die Sammelleidenschaft und dem Verlangen nach Moral gegenüberstellt:
„Auch wenn man die Sammlung primitiver Objekte nicht als die Schaffung eines Cache gestohlener Waren betrachtet, von Dingen, die unter problematischen Umständen erworben wurden. Betrachtet man ein solches Sammeln bestenfalls nicht als verantwortlich für die Auflösung primitiver Kulturen, für ihre langsame Löschung?“ 10
- Rudosky, Christina Helena: André Breton the Collector: A Surrealist Poetics of the Object, 2015, S. 3f. [elektr. Ressource], URL: https://scholar.colorado.edu/concern/graduate_thesis_or_dissertations/5q47rn72z (31.7.2020); Conley, Katharine: Value and Hidden Cost in Andre Breton's Surrealist Collection, in: South Central Review Nr, 32, Heft 1 (2015), S. 8–22, hier: S. 8.
- Rudosky 2015 (wie Anm. 1), S. 52–55.
- Bolz, Peter: Indianer und Katsinam. Annäherungen der europäischen Avantgarde an die indigenen Kulturen Nordamerikas, in: Ausst.kat. dada Afrika. Dialog mit dem Fremden, Zürich/Berlin (Museum Rietberg Zürich/Berlinische Galerie), Zürich 2016, S. 56–60, hier: S. 56–58.
- Franzke, Andreas: Kachina in der Kunst des 20 Jh., in: Ausst.kat. Kachina-Figuren der Pueblo-Indianer Nordamerikas aus der Studiensammlung Horst Antes, Karlsruhe [u.a.] (Badisches Landesmu-seum [u.a.]), Stuttgart 1980, S. 5–19, hier: S. 11.
- Zitiert nach Franzke 1980 (wie Anm. 5), S. 8.
- Bolz 2016 (wie Anm. 4), S. 59.
- Conley 2015 (wie Anm. 1), S. 11.
- Ebd., S. 10.
- Ebd., S. 14.
- Zitiert nach Conley 2015 (wie Anm. 1), S. 14.