Freiheit und Anarchie im Wilden Westen
Rudolf Schlichters „Indianerei“ als modernistischer Ausdruck der deutschen Rezeption indigener Kulturen Nordamerikas

von Margaret Anne Hogie

Rudolf Schlichter bezeichnete seine früheste Schaffensphase, die von Western Filmen und den Romanen Karl Mays maßgeblich beeinflusst wurde, als seine „Indianerei“, womit er „mutige, blutrünstige und abenteuerliche“ Gestaltung verband.1 Diese Auffassung und wie sie durch Film und Literatur in Schlichters Malerei und Grafik Ausdruck fand, wird in diesem Text anhand von den Werken Wild West und Indianerüberfall diskutiert.

Rudolf Schlichter, ein Fanatiker

Der Grafiker, Maler und Schriftsteller Rudolf Schlichter lebte von 1890 bis 1955 in Deutschland und war vor allem in Karlsruhe, Berlin und München aktiv.2 Bereits während seines Studiums an der Karlsruher Kunstakademie fiel er unter anderem als „Wildwest Fanatiker“ und enthusiastischer Leser der Romane von Karl May auf.3 Im Jahr 1918 gründete er die Karlsruher Künstlergruppe Rih, die nach einem bekannten Pferd aus Mays Erzählungen benannt wurde. Kurz darauf änderte er allerdings seine künstlerische Orientierung und wurde in Berlin ab 1919 zu einer zentralen Figur des Dada sowie der Neuen Sachlichkeit und Illustrierte kommunistische Zeitungen. Später widmete er sich hauptsächlich der Veröffentlichung seiner Biografien und kunsttheoretischen Aufsätze, bei denen er sich hin- und wieder abneigend zur nationalsozialistischen Kunstauffassung äußerte.4 Der wesentliche Teil von Schlichters Bildern des Wilden Westens wird allerdings seiner frühesten Schaffensphase zwischen 1916 und 1918 zugeordnet. Leider bleiben heute aus dieser Zeit nur noch sehr wenige Bilder erhalten, jedoch ist sein gesamtes Oeuvre maßgeblich von Themen der Gewalt und Sexualität bestimmt.5

Warum ausgerechnet in Deutschland?

Die Fragen, warum ausgerechnet in Deutschland so viele moderne Künstler ganz besonders von Darstellungen des Wilden Westens begeistert waren und welche Rolle dabei die Populärkultur spielte, sind im Kontext von Rudolf Schlichters Arbeiten seiner sogenannten „Indianerei“ von zentraler Bedeutung, weil diese grundsätzlich damit in Verbindung stehen.

In Deutschland herrschte um 1900 eine gewisse „paternalistische Vorstellung“, so beschreibt es Eric Ames, bei dem viele der Auffassung waren, dass die Deutschen die besseren Kolonialisten im nordamerikanischen Raum gewesen wären und es den amerikanischen Ureinwohnern unter ihrer Vorherrschaft besser ergangen wäre.6 Ames stellt auch fest, dass diese Fantasien in den Romanen von James Cooper und Karl May auf nährreichen Boden trafen, was maßgeblich zu ihrer Beliebtheit beitrug.7 In dieser Tradition schrieb auch der deutsche Autor Carl Zuckmayer zu Beginn seiner Karriere, für dessen unvollendetes Buch Sitting Bulls Ende Rudolf Schlichter ein Kapitel mit dem Titel Frauenraub bebildern sollte. So entstand unter anderem die Illustration Indianerüberfall.8 Die Kreidezeichnung zeigt eine chaotische Szene, in der eine Frau von einem Mann mit energischem Gesichtsausdruck stranguliert wird. Im Vordergrund des Bildes flieht eine weitere erschrockene Frau und im Hintergrund ist eine Ansammlung von Tipis zu sehen. Der Federschmuck im Haar und die Kleider aus Lederhaut kennzeichnen sie als Vertreterinnen der indigenen Bevölkerung.

H. Glenn Penny argumentiert, dass populäre Medien, Kinofilme und Veranstaltungen wie Wild West Shows und Völkerschauen, in denen die Kultur der Native Americans thematisiert wurde, den Bedarf der Deutschen an eskapistischen Geschichten deckte, in denen sowohl das Übel der modernen Gesellschaft kritisiert und gleichzeitig die Freiheit der Natur romantisiert wurde.9 Aus diesem Grund sei die Faszination der modernistischen Maler für die Vorstellung des Wilden Westens um die Zeit des ersten Weltkriegs besonders intensiv gewesen. Außerdem boten die seit 1903 aus den USA importierten Kinofilme eine attraktive Alternative zu den Beschränkungen des Lebens im imperialistischen Deutschland und dem Grauen des Ersten Weltkriegs.10

Kino und Malerei

Wildwestfilme waren außerdem besonders populär, weil sie an die Geschichten von Karl May und James Cooper visuell anknüpfend interpretiert werden konnten, wodurch die Jugendfantasien einer ganzen Generation an Künstlern lebendig gemacht wurden.11 Inspirierend war auch die raue Energie und Kriminalität, die die Filme präsentierten.12 So beschrieb Rudolf Schlichter in seiner Autobiografie, wie er sich bemühte, im dunklen Kinosaal die laufenden Abenteuer mit Kreide- und Federskizzen festzuhalten, und wie er auf der Grundlage dieser Zeichnungen, Bilder für seine „selbsterfundenen Abenteuergeschichten“ anfertigte.13 Ein solches Produkt könnte auch das zwischen 1916 und 1918 entstandene Aquarellbild Wild West sein, welches sein bekanntestes Werk dieser Schaffensphase ist. Hier wird mit kräftigen Farben und markanten Linien eine Mordszene dargestellt, an dem sieben Native Americans und Cowboys beteiligt sind. In der Mitte steht eine für den Betrachter verwirrende Figur, die sowohl die Kleidung und den Kopfschmuck der Native Americans trägt, als auch Cowboystiefel. Zu seinen Füßen liegt ein toter Cowboy. Vor ihm fällt eine Frau zu Boden, die in diesem Moment von einem weiteren Cowboy erschossen wird. Typisch für Schlichters Arbeit sind hier die „moralisch fragwürdigen Protagonisten“, wie Barbara McCloskey seine Figuren nennt, denn hier wird „Verdorbenheit und moralische Ambivalenz“ sichtbar gemacht. Nach McCloskey wurde die deutsche Kinokultur im Lauf des Ersten Weltkriegs stark domestiziert, sodass nur die nicht-weißen Figuren Kriminelle sein konnten und die Weißen grundsätzlich als Gut dastehen sollten. Trotzdem hielt Schlichter weiterhin an der „anarchistischen Gesetzlosigkeit“ des Wilden Westens fest.14 Die ambivalent gekleidete Hauptfigur könnte eine Referenz an den gesetzlosen Antagonisten Parranoh/Tim Fennety aus Karl May’s Buch Winnetou II sein. Dieser war ein weißer Mann, der es schaffte, gleich zwei Mal von Stämmen aufgenommen zu werden und sich zum Häuptling zu küren, obwohl er häufig junge Frauen entführte.15

Allegorien der Gewalt (Fazit)

Die Rezeption der Kultur von den Ureinwohnern Amerikas geschah in Deutschland vor allem auf der Ebene der Literatur und Film, die maßgeblich das Oeuvre vieler moderner Maler beeinflusste. Künstler wie Rudolf Schlichter verallgemeinerten Native Americans durch den Konsum dieser Medien zu einer Allegorie der Gewalt und der Freiheit. So setzte er sie in imaginierte Szenen von gesetzlosen Überfällen und Angriffen ein, die visuell von Western-Stummfilmen beeinflusst waren. Dies wird vor allem in ihrer szenenhaften und lebendigen Wirkung erkennbar. Da aber Darstellungen von Cowboys und Native Americans in Gewalt- und Abenteuerszenen spätestens ab 1903, als die ersten Western aus den USA nach Deutschland gelangten, zum Kanon der Popkultur in Deutschland gehörten, kann nicht eine direkte Verbindung zwischen den Werken von Schlichter und Karl May hergestellt werden. Es ist allerdings klar, dass Schlichters Arbeiten seiner Phase der „Indianerei“ aus einer Fusion von Einflüssen entstanden, nämlich seiner Faszination für Karl May und Western. Barbara McCloskey beschreibt sehr deutlich, wie die Kunstwerke, die in dieser Tradition entstanden, Bezug nehmen auf die „Indianerspektakel in den vielen Wild-West-Shows, Zirkussen und anderen kommerziellen Unterhaltungsangeboten, die vor dem ersten Weltkrieg zu sehen waren“.16

  1. Schlichter, Rudolf: Tönerne Füße. Eine Autobiografie, Bd. 2, hrsg. von Curt Grützmacher und Günter Metken, Berlin 1992, S. 272–274.
  2. Vgl. Peters, Olaf: Schlichter, Rudolf, in: Neue Deutsche Biographie, Nr. 23 (2007), S. 73–75 [elektr. Ressource], URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118759388.html#ndbcontent (20.07.2020).
  3. Vgl. ebd. und Dieter Sudhoff: Obsessionen eines Malers. Rudolf Schlichter und Karl May, in: Jahr-buch der Karl May Gesellschaft (1999), S. 360-421, hier: S. 361 [elektr. Ressource], URL: https://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/seklit/JbKMG/1999/360.htm (20.07.2020).
  4. Vgl. Ebd. und Förster, Katja: Rudol Schlichter, in: Stadtlexikon Karlsruhe (2016), URL: https://stadtlexikon.karlsruhe.de/index.php/De:Lexikon:bio-1131 (20.07.2020) und Karl Markus Kreis: German Wild West. Karl May's Invention of the Definitive Indian, in: Ausst.kat. I Like America, Frank-furt a. M. (Schirn Kunsthalle), München 2006, S. 249–273, hier: S. 262f.
  5. Vgl. Sudhoff 1999 (wie Anm. 3), S. 383.
  6. Ames, Eric: Seeing the Imaginary. On the Popular Reception of Wild West Shows in Germany 1885 - 1910S, in: Ausst.kat. I Like America, Frankfurt a. M. (Schirn Kunsthalle), München 2006, S. 212–229, hier: S. 224.
  7. Vgl. ebd.
  8. Vgl. Sudhoff 1999 (wie Anm. 3), S. 400.
  9. Vgl. Penny, Glenn H.: Illustriertes Amerika. Der Wilde Westen in deutschen Zeitschriften 1825–1890, in: Ausst.kat. I Like America, Frankfurt a. M. (Schirn Kunsthalle), München 2006, S. 141–157, S. 142.
  10. Vgl. Penny 2006 (wie Anm. 9) S. 142.
  11. Vgl. McCloskey, Barbara: Von der “Frontier” zum Wilden Westen. Deutsche Künstler, nordamerika-nische Indianer und die Inszenierung von Rasse und Nation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: AK I Like America, Frankfurt a. M. (Schirn Kunsthalle), München 2006 S. 299–321, hier: S. 313
  12. Vgl. ebd., S. 314.
  13. Schlichter 1992 (wie Anm. 1), S. 274, zitiert nach Sudhoff 1999 (wie Anm. 3), S. 378.
  14. McCloskey 2006 (wie Anm. 11), S. 314.
  15. Kosciuszko, Bernhanrd (Hrsg.): Großes Karl May Figurenlexikon, Paderborn 1996, URL: https://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/seklit/figlex/13.htm, (30.07.2020).
  16. McCloskey 2006 (wie Anm. 11), S. 313.
Wir benutzen Cookies
Diese Website verwendet Cookies. Nähere Informationen dazu und zu Ihren Rechten als Benutzer finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.