Max Ernst – Faszination für die indigene Kultur

von Kim Rathnau

Der Surrealismus und das Indigene

Im frühen 20. Jahrhundert beschäftigten sich viele westliche Künstler mit der Kunst außereuropäischer Kulturen. Während sich die Kubisten und Expressionisten mit der afrikanischen Kunst befasst haben, verlagerten die europäischen und amerikanischen Surrealisten ihr Interessengebiet auf die indigenen Kulturen Nordamerikas.1
Die Surrealisten identifizierten sich mit dem Phantastischen und Phantasievollen – mit der Verschmelzung verschiedener Wesen, die sich in der indigenen Kunst findet, sowie auch mit dem Bild der Freiheit, welches die Kulturen Nordamerikas widerspiegeln.2 Es war die Kombination aus Tier- und Menschwesen und die leuchtenden Farben und amorphen Formen der Kunst und des Kultwesen Nordamerikas, in denen sich die Surrealisten wiederfanden.3

Rezeption und Beschäftigung mit der nordamerikanischen Kultur

Wie die Künstler des 20. Jahrhunderts mit ihrer Affinität dem Indigenen gegenüber umgingen, lässt sich in zwei Kategorien unterteilen. Es gab jene Künstler, die sich an den Klischees der Indigenen bedienten und diese in ihren Werken wiedergaben, ohne sich mit einem realitätsgetreuen Bild der Kultur beschäftigt zu haben. Dies war die Vorgehensweise der meisten Künstler, die sich diesem Themengebiet temporär annahmen. Es gab jedoch auch einige wenige, die ihr Interesse nicht in ihre Werke einfließen ließen und die indigene Kultur nicht direkt zitierten, sondern sich derer als Sammler annahmen.4 Max Ernst und André Breton waren zwei dieser Künstler, die sich vor allem für die indigene Kunst begeisterten und deren Artefakte sammelten. Besonders fasziniert waren sie von den Katsina-Puppen der Hopi im Südwesten der USA.5

Im Kontext des westlichen Kunstdiskurses war ‚primitive Kunst‘ ein oft verwendeter Begriff für indigene Objekte. Die vorurteilsbehaftete und negative Formulierung bedient sich an den Klischees des Bildes um den Indigenen, wie er sich im Zuge der Kolonialisierung im Auge des Europäers etabliert hat. Diese negative Konnotation findet sich im 20. Jahrhundert jedoch nicht aus künstlerischer Sicht der Surrealistischen wieder. In der Ausstellung Exposition surrèaliste d’objekts von 1936, konzipiert von dem Galeristen Charles Ratton in Paris, wurde erstmals europäische und indigene Kunst nebeneinander gezeigt, darunter auch mehrere Katsina-Puppen der Hopi.6 Dies veranschaulicht die Wertschätzung der Surrealisten gegenüber den indigenen Objekten und die Gleichsetzung dieser Objekte mit der eigenen Kunst.7

Max Ernst – Erste Begegnungen mit dem Indigenen

Max Ernsts Interesse an der Kultur der Pueblo-Indianer entwickelte sich während seines Aufenthaltes im amerikanischen Exil.8 Die Faszination für nordamerikanische Kultur fand ihren Ursprung jedoch schon in seiner Kindheit in den Büchern von Karl May.9
Nach einigen Schwierigkeiten schaffte Max Ernst es 1941 zusammen mit Peggy Guggenheim in die USA einzureisen. Mit dem neu erworbenen Wissen über die Lebensweise der Native Americans wuchs sein Interesse weiter. So wurden das Museum of American Indians und das Museum of Natural History) zu seinen Lieblingsorten in New York. Kurz darauf folgte seine erste Reise nach Arizona und New Mexiko. Zusammen mit Peggy Guggenheim durchquerte er die kahlen, jedoch monumentalen und eindrucksvollen Weiten des Landes, auf der Suche nach einem geeigneten Ort für ein Museum. Dabei nutze er die Möglichkeit, Reservate besuchen und die indigene Kultur aus erster Hand auf sich wirken lassen zu können. Damit war Ernst endgültig von den Katsina-Puppen und anderen Artefakte der indigenen Bevölkerung fasziniert.10 Sein Sohn Jimmy Ernst schreibt in seiner Biographie, wie sein Vater in einen Laden von Fred Harvey ging und große Mengen Katsina-Figuren kaufte.11 Im Oktober 1942 organisierte Peggy Guggenheim eine Ausstellung, die sie den Surrealisten widmete, die Art of the Century, welche auch Katsina-Puppen zeigte.12

Max Ernst – Vertiefung

Die spätere Lebensgefährtin von Max Ernst, Dorothea Tanning, erinnerte sich, dass die Faszination Ernsts für das Indigene so weit ging, dass er sogar ihr Domizil zu einer Art Völkerkundemuseum umgestaltete.13 Im Sommer 1943 machten die beiden eine Reise nach Sedona (Arizona). Dort wurden in den dreißiger Jahren prähistorische Ruinen freigelegt, die archäologischen Zugang über Vorfahren der indigenen Bevölkerung Nordamerikas boten. Max Ernsts Interesse an der Kultur und an den Grabungen veranlassten ihn und Dorothea Tanning dazu sich 1946 fest in Sedona niederzulassen.14 Ihr eigen erbautes Haus gestaltete Max mit Skulpturen: Er formte Köpfe aus Zement, Tierwesen und Masken, die unter anderem denen von Katsina ähnelten.15 Sie erkundeten Höhlen mit alten Felsmalereien und Steinritzungen, wohnten Maskentänzen bei und freundeten sich mit einzelnen Pueblos, unter anderem auch Hopi, an.16 Sein Interesse um die Kultur der Hopi vertiefte Max Ernst mit Literatur von Jesse Walter Fewkes und mit der Autobiografie Sun Chief von dem Hopi Don Talayesva.17

Noch vor der endgültigen Fertigstellung ihres Hauses in Sedona begann Max Ernst mit einer Skulptur, die er Capricorn nannte (1947): Ein Monument aus Beton für ihren sogenannten Steinbockhügel. Die Skulptur vereint zwei königlich dargestellte Zwitterwesen, die als Wächter für ihr Haus dienten. Ein gehörnter Stierkopf sitzt auf einem Körper, der in einem Thron mündet, in der rechten Hand hält dieser einen Zeremonienstab. Auf der linken Seite der Sitzfläche, die man im übertragenen Sinne als linkes Knie bezeichnen könnte, sitzt ein verhältnismäßig kleines Wesen mit fratzenartigem Gesicht (in der Urskulptur von 1947). Neben dem thronenden König findet sich das weibliche Gegenstück in Form einer Nixe. Die einzelnen Elemente des Monuments sind – ganz im Sinne einer surrealistischen Arbeitsweise – collagenartig, aus unterschiedlichen geometrischen Formen zusammengestellt und abgegossen, sodass ein abstraktes Erscheinungsbild entsteht.18

Capricorn vereint wohl mehrere mythische und astrologische Ansätze, darunter sicherlich auch Narrative, die aus seiner Zeit vor Ort bei den Hopi stammen. Viele sahen in den gehörnten Köpfen der Capricorn-Skulptur Köpfe von Katsinam. Diese Einflüsse hat Max Ernst jedoch nie direkt nachgebildet, sondern eher mit seiner eigenen mythologischen Welt verschmelzen lassen.19

Auch wenn Max Ernst nicht direkt die Motive der indigenen Kultur, wie die Katsinam der Hopi, in seiner Kunst rezipiert hat, so hat er sich doch zumindest davon inspirieren lassen. Das sieht man nicht nur bei Capricorn, sondern auch in seinen späteren Arbeiten, die nach seiner Zeit in Sedona entstanden sind. Ernst formte neue Motive, die maskenartig wirken; Zwitter- und Fabelwesen, die, auch wenn sie nicht konkret mit einzelnen Objekten oder Geistwesen der Pueblo abzugleichen sind, zumindest eine Orientierung daran vermuten lassen.20

Sammlung der Katsina-Puppen

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erwarben Max Ernst und andere sammelaffine Surrealisten wie André Breton und Georges Duthuit in den New Yorker Galerien Artefakte der indigenen Bevölkerung und erweiterten so ihre eigenen Sammlungen.21 Auf den zwei Fotos der Bilderserie von James Thrall Soby sieht man Max Ernst mit seiner Katsina-Puppen-Sammlung. Diese nahm er später auch mit nach Europa, wo sie bis zu seinem Tode in seinem Besitz waren.22

  1. Metken, Sigrid: „Zehntausend Rothäute …“ – Max Ernst bei den Indianern Nordamerikas, in: Ausst.kat. Max Ernst. Retroperspektive zum 100. Geburtstag, London (Tate Gallery ), München 1991, S. 357–362.
  2. Ebd.
  3. Ebd.
  4. Bolz, Peter: Indianer und Katsinam. Annäherungen der europäischen Avantgarde an die indigenen Kulturen Nordamerikas, in: Ausst.kat. dada Afrika. Dialog mit dem Fremden, Zürich (Museum Rietberg Zürich), Zürich 2016, S. 56–60, hier: S. 56.
  5. Ebd.
  6. Franzke, Andreas: Kachina in der Kunst des 20 Jh., in: Ausst.kat. Kachina-Figuren der Pueblo-Indianer Nordamerikas aus der Studiensammlung Horst Antes, Karlsruhe [u.a.] (Badisches Landesmu-seum [u.a.]), Stuttgart 1980, S. 5–19, hier: S. S. 13.
  7. Bolz 2016 (wie Anm. 4), S. 58.
  8. Ebd., S. 59.
  9. Metken 1991 (wie Anm. 1), S. 357.
  10. Guggenheim, Peggy: Von Kunst besessen, München 1963, S. 78.
  11. Metken 1991 (wie Anm. 1), S. 357.
  12. Ebd.; Guggenheim 1963 (wie Anm. 10), S. 85–89.
  13. Bolz 2016 (wie Anm. 4), S. 59.
  14. Ebd.
  15. Metken 1991 (wie Anm. 1), S. 358.
  16. Ebd. S. 359.
  17. Ebd.
  18. Ebd.
  19. Ebd.
  20. Ebd.
  21. Ebd. S. 357.
  22. Franzke 1980 (wie Anm. 6), S. 15.