Der Wanderer zwischen Oraibi und Kreuzlingen
Über Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag

von Min Zeng

Für Aby Warburg markierte das Datum des 21. April 1923 den Wendepunkt seines Aufenthalts in Kreuzlingen, da er in Absprache mit seinem Psychiater Dr. Kurt Bingswanger einen Vortrag mit Bildern unter dem Titel Über die Logik in der Magie des primitiven Menschen im Senatorium Bellevue, wo er seit April 1921 als Patient aufgenommen war, halten sollte. Dabei sollte Warburg über seine USA-Reise zwischen 1895 und 1896 berichten, um seine wiedergewonnene wissenschaftliche Befähigung zu demonstrieren und dadurch das Sanatorium verlassen und nach Hamburg zurückkehren zu dürfen. Die Hintergründe des sogenannten Kreuzlinger Vortrags könnten Licht in der Dunkelheit bringen, warum Warburg selbst die Verbreitung des Vortragsmanuskripts rigoros untersagt hatte.

Etwa 65 Jahre später erblickte der Kreuzlinger Vortrag die erste Veröffentlichung in der original deutschen Sprache durch die Herausgeberschrift Aby M. Warburg. Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika (1988) von Ulrich Raulff,1 der auf eine Nachbereitung2 von Fitz Saxl und Gertrud Bing zurückgegriffen hat. Hingegen haben Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig eine wenig editierte, sprachlich ursprüngliche Vorbereitungsfassung des Vortrags bei der Zusammenstellung Aby Warburg. Werk in einem Band (2018) verwendet.3

Freilich reflektiert diese ungewöhnliche Rezeptionsgeschichte des Kreuzlinger Vortrags einerseits die Würdigung von Warburgs kulturanthropologischer Forschung. Anderseits zeigt sie das anhaltende Leserinteresse, etwas über die Hopi und andere Pueblokulturen der Zeit um 1900 zu erfahren. Vor allem gewinnt der Teil mit dem berühmten Schlangenritual an Popularität, auch wenn Warburgs Vortrag bei weitem nicht der einzige zu diesem Thema war. Aufgrund der sprachlichen und inhaltlichen Eigentümlichkeit ist Warburgs Reisebericht allerdings nicht leicht zu durchdringen, da sich persönliche Eindrücke mit autobiographischem und wissenschaftlichen Überlegungen vermischen.

Multimedialität und Mehrdimensionalität

In diesem Sinne erweist sich die Niederschrift von Warburgs Kreuzlinger Vortrag keineswegs als ein wissenschaftlicher Aufsatz, der einzelne Forschungsansätze abarbeiten sollte. Dennoch gewährt Warburg mit dem prominenten Text zu der Hopi-Gesellschaft einen kulturwissenschaftlichen Einblick aus verschiedenen Perspektiven, unter anderem der Philologie, Mythologie und Archäologie. Seine detailreiche Illustration des Schlangenrituals realisierte einen an ein breites Publikum adressierten Wissenstransfer, der die Distanzen von Oraibi bis Kreuzlingen, von Walpi bis Hamburg überbrückte. Gleichzeitig sprach Warburg über das mythische Denken und vollzog einen Vergleich von Pueblogesellschaften und europäischer Astrologie. Dies erweckt den Anschein, als hätte Warburg seinen Vortrag nicht zuletzt an sich selbst gerichtet, um seine wissenschaftliche und persönliche Vergangenheit zu dokumentieren.

Ebenfalls erhielt der Vortrag eine persönliche Note durch die Art der Ausführung, bei der der Gelehrte eine Dia-Projektion teils mit freier Rede kombinierte und diese improvisierend kommentierte. Der französische Medienwissenschaftler Philippe Despoix charakterisiert Warburgs Vorgehensweise als einen visuellanthropologischen Ansatz, der sowohl den visuellen als auch den akustischen Sinn mit einer spezifischen Reihenfolge der Bilderkommentare berücksichtige. Weiterhin zeichne Warburgs kontinuierliches Experimentieren mit dem fotografischen Medium, das sich aus Sammeln, Ordnen und Zeigen fotografischer Reproduktionen zusammensetzt, sein methodisches Vorgehen in der Bildforschung aus. Mithilfe dieser Praktiken erarbeite er eine eigenartige Technik des Diavortrags, die zur Entfaltung eines heuristischen Musters beitrage. In dieser Technik sieht Despoix das Resultat aus jener Arbeit mit Bilddokumenten, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre im „Bildlabor“ der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg erprobt wurde.4

Kunsthistorische Lesart

Die Vielfalt der hier aufgeworfenen Kontexte von Personen, Bildern und Texten stellt die Frage nach einer Methode, die mit diesem schwer zugänglichen Text umgehen kann. Sicherlich bietet sich eine Lesart an, welche auf eine kunsthistorische Aufarbeitung mit Bildwissenschaft abzielt. Zumal begründet sich solche Lesart in Warburgs theoretischer Annahme, dass sich Analogien zwischen der Entwicklung der Hopi-Gesellschaft und der Entwicklung der europäischen Kunstgeschichtsschreibung zeigen ließen.

In der speziellen Lesart verbirgt sich jedoch die Gefahr, was die Feststellung der Entwicklungsstufe einer für Westeuropäer exotischen Zivilisation betrifft. Über welche „Wanderstrassen der Kultur“ gelangte Warburg zu seinen Befunden? Lassen sich Bilder, Erzählungen und Erklärungen von seiner Reise mit jener bildwissenschaftlichen Methodik interpretieren, die er für Bilder, Artefakte und Texte der europäischen Renaissance entwickelte?

Für Warburg stellen nicht nur die fehlenden Sprachkenntnisse sowie der auf einige Wochen befristete Forschungsaufenthalt ein bedeutendes Hindernis für ein tieferes Eindringen seiner Beobachtung dar,5 vielmehr geht es um seinen Mangel an ethnographischen Kenntnissen, die es ihm ermöglichen sollten, kulturspezifische Handlungen und Phänomene umfassend zu beschreiben und zu deuten. Auch wenn Warburg sich mit Hopi angefreundet hatte, gelangte er nicht an das kulturspezifische Wissen. Schon deshalb nicht, weil die Geheimbünde ihr Ritualwissen stets verbargen und zudem den Zugang für andere Hopi aus der Überzeugung verschlossen, dass sich die Magie der Katsina-Geister in der Abgeschiedenheit begründet.

Auf der anderen Seite hält Christian F. Feest, ein österreichischer Ethnologe, es für möglich, dass Warburg unwissentlich seine eigenen Reiseerlebnisse durch die Erwartungshaltung verändert haben könnte.6 Das Universum der kulturellen Vielfalt aus dem indigenen Nordamerika werde in diesem Fall zum Selbstbedingungsladen von Legitimationen, um den eigenen Ängsten, Wünschen und sonstigen Befindlichkeiten eine identitätsstiftende Projektionsfläche zu bieten. Möglicherweise ließ Warburg sich hin und wieder von der romantisierenden Begeisterung für die Hopi-Kultur vereinnahmen. Für die wissenschaftliche Vorgehensweise ist jedoch eine Unvoreingenommenheit unabdingbar, die stets voraussetzt, Phänomene in ihrem eigenen kulturellen Kontext zu betrachten. Infolgedessen bedarf Warburgs Verfahren weiterer kritischen Auseinandersetzung gerade dort, wo Phänomene aus verschiedenen Kulturen nebeneinandergestellt werden.

Schlangenritual und Schlagensymbolik

Trotz aller Unzulänglichkeit steht im Zentrum von Warburgs Vortrag keineswegs die eigene Reise oder die von ihm in Oraibi gesehene und protokollierte Hemiskatsina-Tanz, sondern das sogenannte Schlangenritual der Hopi, das er auf seiner Reise nicht besucht hatte und sich daher bei seinen Ausführungen auf Sekundärliteratur stützte.

Die „heidnische Weltanschauung, wie sie bei den Pueblo-Indianer noch fortlebt“, erschaffe einen gewissen Maßstab „für die Entwicklung vom primitiven Heiden über den klassischheidnischen Menschen zum modernen Menschen“.7 Aus Warburgs Sicht galt das Schlangenritual als die höchste Form von Annäherungsversuchen der Hopi, Geistwesen anzurufen und anzubeten, um übernatürliche Kraft zu erlangen.8 Insofern findet seine Überleitung von der Pueblo-Kultur zum europäischen Kulturraum über die Schlangensymbolik statt.

Die Schlange werde nicht geopfert, sondern durch Rituale wie Weihung und Tanzmimik zum Botschafter umgewandelt und ausgesandt, um in Blitzgestalt das Gewitter am Himmel zu erzeugen. Daraus formulierte Warburg seinen zentralen Befund: „Die elementare Entladungsform dieser religiösen Magie der Indianer als Ureigentümlichkeit primitiver Wildheit, von der Europa nichts weiß, anzusehen, liegt dem Unbefangen nahe“.9 Im Sinne seines Leitspruchs für den Vortrag („Es ist ein altes Buch zu blättern, Athen-Oraibi, alles Vettern“10 ) verkörpere die Schlangensymbolik die Verbindung zwischen der Hopi-Kultur und der griechischen Antike. Somit versinnbildliche die Schlange den Sublimierungsprozess in der Religion, wobei das Verhältnis zu ihr als Gradmesser des vom Fetischismus zur reinen Erlösungsreligion sich wandelnden Glaubens diene.11 Seine These, dass die Schlange ebenfalls Einzug in der europäischen Kultur wie beispielsweise als Urschlange Tiamat in Babylon oder beim Todeskampf mit Laokoon als „die gnadenlose unterirdische Fresserin“ oder „vernichtende Unterweltgewalt“ findet, solle belegen, dass das mythische und das symbolische Denken zusammen „im Kampf um die Vergeistigte Anknüpfung zwischen Mensch und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum“ etablieren.12

Warburgs audiovisuelle und schriftliche Darstellung liefert ein für Außenstehende spektakuläres Bild des öffentlichen Schlangentanzes. Die dramatische Zuspitzung finde am Ende des Tanzes statt, wenn die Tänzer die lebenden Schlangen in den Mund nahmen. Wie es im Kreuzlinger Vortrag zur Sprache kam, besteht Warburgs Beitrag zur Kunstgeschichte in der symboltheoretischen Deutung der dargestellten Formen, sodass die formale Betrachtung des Bildes als eine ästhetisierende Zutat der Kunstgeschichte abgewendet wurde.13 Die Reise zu den Hopi, so Warburgs spätere Erläuterung, ermöglichte ihm, die „Zwischenstellung des Bildes“ zu erkunden, die Beziehung zwischen Religion und Kunstausübung, aber auch die Verbindung zwischen der Antike und der Kunst der Renaissance zu erörtern.

Auswirkung

Warburgs Zuschreibung hat mit der Zeremonialordnung der Hopi, wie sich nachlesen lässt, sehr wenig zu tun, da das Schlangenritual zwischen 1890 und 1920 – so der deutsche Medienwissenschaftler Erhard Schüttpelz – für die Hopi selbst keine zentrale Zeremonie im Zeremonialzyklus war.14 Entgegen der kulturellen Wirklichkeit entzündete Warburgs Kreuzlinger Vortrag gleichwohl eine besondere Dynamik, was wie Fluch und Segen zugleich zu wirken scheint. Warburgs Reise in den Südwestern mitsamt seinem Kreuzlinger Vortrag wurde zum Auslöser für die deutsche Hopi-Forschung, deren kulturelle, religiöse und politische Konstellationen bis heute fortwirken. Eine Wanderstrasse der Kulturen nimmt somit ihre sichtbaren Züge an, ganz im Sinne von Aby Warburg.

  1. Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht, mit einem Nachwort von Ulrich Raulff (Hrsg.), Berlin 1988.
  2. Warburg, Aby, A Lecture on Serpent Ritual, in: Journal of the Warburg Institute II (1938-39), S. 222–292.
  3. Ladwig, Perdita; Treml, Martin; Weigel, Sigrid (Hrsg.): Aby Moritz Warburg, Werke in einem Band: auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare, Berlin 2010.
  4. Despoix, Philippe: Dia-Projektionen mit freiem Vortrag. Warburg und der Mythos von Kreuzlingen, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften, Heft 11: Dokument und Dokumentarisches, Bd. 6 (2014), Nr. 2, S. 19–36, hier: S. 19f.
  5. Warburg 1988 (wie Anm. 1), S. 9.
  6. Feest, Christian F.: Das Unverständliche, das Fremde und das Übernatürliche. Schlangen in religiö-ser Vorstellung und Praxis im indigenen Nordamerika, in: Cora Bender, Thomas Hensel und Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen vom Tsu'ti'kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag, Berlin 2007, S. 119–152, hier: S. 119.
  7. Warburg 1988 (wie Anm. 1), S. 12.
  8. Ebd., S. 40.
  9. Ebd. S. 44.
  10. Ebd. S. 9.
  11. Ebd., S. 44.
  12. Ebd.
  13. Schüttepelz, Erhard: Das Schlangenritual der Hopi und Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag, in: Cora Bender, Thomas Hensel und Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Schlangenritual. Der Transfer der Wissensfor-men vom Tsu'ti'kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag, Berlin 2007, S. 187–216, hier S. 187.
  14. Ebd., S. 191.