Aby Warburgs Amerika-Reise und die vor Ort entstandenen Fotografien

von Sofia Simeth

„Aby Warburg hat wie kaum ein Zweiter erschlossen, was Bilder vermögen und wie sie an der Gestaltung der Welt sowie der Verfasstheit des Menschen teilnehmen“

Horst Bredekamp1

Die Amerika-Reise

Aby Warburg brach im September 1895 von Hamburg aus nach Amerika auf, um an der Hochzeit seines Bruders Paul Moritz Warburg in New York teilzunehmen.2 Abgestoßen von der westlichen Zivilisation, der traditionellen Kunstgeschichte und angetrieben von seinem Forschungsvorhaben, mehr über die Bedeutung von Ornamentik und Symbolik in der Kunst zu erfahren, zog es ihn schon bald in den Südwesten der USA.3 Der Bruder seiner neu angeheirateten Schwägerin, Morris Loeb, stellte den Kontakt zwischen Warburg und dem Ethnologen Franz Boas her, der Warburg in die Forschung zur Kultur der indigenen Völker einführte.4 Schon bald präzisierten sich Warburgs Reispläne und er brach im Dezember 1895 auf, um in den kommenden fünf Monaten die Staaten Arizona, Colorado und New Mexico zu durchqueren. Auf seiner Reise besuchte er mehrere Pueblo-Dörfer, sprach sowohl mit Hopi selbst über ihre Kultur als auch mit Ethnologen, die zu ihnen forschten. Mit dem Beginn der 1890er Jahre hatte die westliche ‚Indianer‘-Forschung einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Kultur der indigenen Völker Amerikas wurde nun unter archäologischen, ethnologischen und linguistischen Aspekten erforscht und wissenschaftlich festgehalten.5 Neue Techniken, wie die der Fotografie und Phonogramme, kamen zum Einsatz.6 So wundert es kaum, dass auch Warburg sich zu Beginn seiner Reise in Santa Fe eine Bulls’s Eye-Boxcamera kaufte, um seine Reise-Eindrücke bildlich zu fixieren.7 Die Handkamera, die erst einige Jahre zuvor von Kodak auf den Markt gebracht worden war, ermöglichte es Warburg die Fotografien im Nachhinein als visuelles Tagebuch zu nutzen..8 Die Bilder zeigen die unterschiedlichsten Motive und halten das Erlebte auf dokumentarische Weise fest; Landschaften, Dörfer, Menschen und Gegenstände. Warburg fotografierte alles, was ihm interessant erschien. Besondere Bedeutung wird den Fotografien zugeschrieben, die Warburg während Katsina-Zeremonien machen durfte.

Die Motive der Fotografien

Die von Warburg mit seiner Kamera aufgenommen Motive variieren stark. Neben Aufnahmen der Stadt Santa Fe und mehreren Pueblo-Dörfern, existieren auch viele Aufnahmen von Landschaften. Die aufgenommenen Porträtfotografien zeigen sowohl seine amerikanischen Bekannten als auch Menschen, die Warburg auf seiner Reise traf, darunter Indigene, Einwanderer aus Asien und Süd-Amerika sowie weiße Amerikaner. Feststellen lässt sich, dass die Aufnahmen variieren je nach Abstammung der Menschengruppe: Angehörige der Hopi fotografierte er sehr nah, sie waren Gegenstand seines wissenschaftlichen Interesses; Europäer oder nicht-indigene Amerikaner fotografierte er mit mehr Distanz und oft in Gruppen.9

Am 28.04.1896 hatte Aby Warburg auf seiner Reise das Dorf Oraibi erreicht, wo er den Pastor und Ethnologen Richert Voth traf, der im Jahr 1893 die Erlaubnis erhalten hatte, die Bräuche der Hopi zu beschreiben und zu fotografieren. Zunächst hatte Warburg erfahren müssen, dass „die Indianer […] sich nur ungern photogra[phieren] lassen“10 , doch dann profitierte auch er von der Übereinkunft zwischen den Hopi und Voth. So wurde es für ihn möglich, mehreren Tänzen beizuwohnen und diese zu fotografieren.11 Neben den Fotografien des Antilopentanz, gehören auch die am 01.05.1896 aufgenommenen Fotos des Hemis-Kachina-Tanzes zu den bekanntesten Motiven seiner Amerika-Reise.12
Die hier entstandenen Abzüge zeigen einerseits die maskierten Hopi-Tänzer während des Tanzes, anderseits gibt es auch einige Abzüge, die Warburg selbst im Kontext dieser Ereignisse zeigen. Auf einer Aufnahme steht Warburg zentral inmitten einer Landschaft, rechts hinter ihm ist eine Maske abgestellt, die von seinem Körper zur Hälfte verdeckt wird. Vor der Maske liegt Warburgs breitkrempiger Hut auf dem Boden. Auf dem Kopf von Warburg thront eine große Katsina-Maske, die er jedoch nicht vollständig über den Kopf gezogen hat. Sie reicht bis zu seinen Augenbrauen und bedeckt nur seine Stirn. Somit ist er als Person noch zu erkennen und die Verwandlung in einen Hemis-Kachina-Tänzer nicht vollzogen. Dieser Prozess, in dem der Tänzer seine eigene Persönlichkeit ablegt und ganz zu der von ihm verkörperten Katsina wird, ist im Bild lediglich als Möglichkeit angedeutet.13

Ein weiteres Foto zeigt Warburg auf einem Platz außerhalb des Dorfes, auf dem sich die Tänzer gerade ausruhen. Er trägt den gleichen Hut, den er auf dem anderen Foto abgelegt hatte. Er selbst steht leicht zurückgelehnt und hat seinen linken Arm um den Arm eines Hopi-Tänzers gelegt, den er leicht in den Vordergrund zu schieben scheint. Warburg lächelt in die Kamera, der Tänzer hingegen mustert den Fotografen mit einem ernsten Blick, den man skeptisch deuten kann. Die im Hintergrund abgebildeten Hopi scheinen ebenfalls kritisch in die Kamera zu blicken. Vor ihnen erkennt man im Halbkreis abgelegte Masken auf dem Boden. Der Fotograf dieser Bilder ist leider unbekannt, auffällig ist aber, dass sie im Vergleich zu vielen anderen Bildern fotografisch gut gelungen sind. Möglicherweise handelt sich bei dem Fotografen um Voth, der geübt mit dem Fotografieren war.

Aby Warburg als Fotograf

Die Firma Kodak hatte nur wenig Jahre vor Aby Warburgs Reiseantritt die erste Handkamera mit Rollfilm auf den Markt gebracht, die es für Hobbyfotografen möglich machte, Motive in wenigen Sekunden und ganz ohne Stativ und Zubehör aufzunehmen.14 Die von Warburg erworbene Bulls’s Eye-Boxcamera gehörte zu eben diesem Typ Kamera, der mit dem Slogan: „You press the button – we do the rest“15 beworben wurde. Die leichte Bedienung und Handhabung der Kamera machte es auch für ihn, der auf dem Gebiet der Fotografie ein kompletter Anfänger war,16 möglich, spontan während seiner Reise zu fotografieren. Auch wenn das Motiv der meisten Fotos gut erkennbar ist, erklärt die mangelnde Erfahrung Warburgs als Fotograf, die oft unzureichende Belichtung und Schärfe vieler Fotografien. Im Allgemeinen lässt sich beobachten, dass die von Landschaften und Personen aufgenommenen Fotografien von besserer Qualität sind als die von Detailaufnahmen. Zurückzuführen lässt sich das auf die beim Fotografieren immer eine große Rolle spielenden Gegebenheiten der Umgebung. Die in der kargen Landschaft der Südstaaten vorherrschenden guten Lichtverhältnisse boten optimale Bedingungen zum Fotografieren.

Die Fotografien - Präsentation und Rezeption

Abi Warburg setzte sich auch nach seiner Rückkehr intensiv mit seiner Reise zu den Pueblo-Indianern auseinander und verwendete die Fotografien für drei Lichtbildervorträge, die er vor Publikum präsentierte.17 Am 21.01.1897 sprach er vor der Gesellschaft zur Förderung der Amateur-Photographie in Hamburg. Am 10.02.1897 hielt er seinen Vortrag in Berlin vor dem Club der Amerikanisten und am 16.03.1897 vor der freien photographischen Vereinigung Berlin im königlichen Museum für Völkerkunde.18 Daraufhin beendete Warburg abrupt seine Beschäftigung mit der Kultur der Hopi und es vergingen 23 Jahre, bis er die Fotografien ein weiteres Mal einem größeren Publikum präsentierte.

Seit seiner Kindheit litt Warburg an Angstzuständen, die 1918 ihren Höhepunkt in einer schweren psychischen Erkrankung fanden.19 Im April 1921 folgte die Einweisung ins Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, wo er die folgenden Jahre verbrachte. Als im Frühjahr 1923 eine Besserung eintrat, unterbreitete er den führenden Ärzten und Leitern der Klinik den Vorschlag, einen Vortrag vor den Patienten und Ärzten der Klinik zu halten, um so seine psychische Genesung unter Beweis zu stellen.20 Sein Vorschlag wurde angenommen und Warburg begann mit den Vorbereitungen. Er ließ sich 50 Diapositive aus Hamburg übersenden, von denen er 48 Stück während des Vortrags am 21.04.1923 zeigte.21 Nach Aussagen von Anwesenden hielt Warburg keinen mit Fotografien illustrierten Vortrag, sondern zeigte eine Dia-Projektion, die er sprachlich frei kommentierte.22 Die Diapositive standen also im Mittelpunkt seines Vortrags, der Text wurde zum begleitenden Medium. Obwohl Warburg die Verbreitung des Vortrages untersagte, wurde dieser 1939 unter dem Titel A Lecture on Serpent Ritual23 in stark redigierter und gekürzter Form publiziert und mit Bildmaterial illustriert, das nicht den ursprünglichen Fotografien entsprach.

Die Fotografien heute

Erhalten sind von den auf der Reise entstandenen Bilddokumenten heute noch 141 Stück, die in Form von Zelluloidnegativen im Archiv des Warburg Institute in London aufbewahrt werden.24 Neben Abzügen, zu denen es keine Negative mehr gibt, werden hier auch Fotografien aufbewahrt, die zwar im Zusammenhang zu Warburgs Amerika-Reise stehen, aber nicht von ihm aufgenommen wurden.25

Die Bedeutung, die den auf der Reise entstandenen Fotografien sowohl damals zu kam als auch heute noch beigemessen wird, ist groß. Die Fotografie war von Beginn an essentieller Bestandteil seiner Arbeit an der Erneuerung des Bilddenkens.26 Er verwendete das Medium Fotografie als Werkzeug zur dokumentarischen Aufzeichnung indigenen Lebens und als Werkzeug einer kunstgeschichtlichen Methodik, die bei der Einordnung von Inhalten vom Bild ausgeht und nicht vom Text.

  1. Bredekamp, Horst: Aby Warburg der Indianer. Berliner Erkundungen einer liberalen Ethnologie, Berlin 2019, S. 7.
  2. Ebd., S. 17 und 19.
  3. Ladwig, Perdita; Treml, Martin; Weigel, Sigrid (Hrsg.): Aby Moritz Warburg, Werke in einem Band: auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare, Berlin 2010, S. 569.
  4. Bredekamp 2019 (wie Anm. 1), S. 17.
  5. Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht, mit einem Nachwort von Ulrich Raulff (Hrsg.), Berlin 1988, S. 68.
  6. Ebd.
  7. Bredekamp 2019 (wie Anm. 1), S. 37.
  8. Ebd., S. 32.
  9. Jones, Ian: Aby Warburg als Photograph, in: Benedetta Cestelli Guidi und Nicholas Mann (Hrsg.): Grenzerweiterungen. Aby Warburg in Amerika. 1895–1896, Hamburg 1999, S. 48–52, hier: S. 50.
  10. Ebd., S. 155.
  11. Bredekamp 2019 (wie Anm. 1), S. 31.
  12. Warburg 1988 (wie Anm. 5), S. 26; Despoix, Philippe: Dia-Projektionen mit freiem Vortrag. Warburg und der Mythos von Kreuzlingen, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften, Heft 11: Dokument und Dokumentarisches, Bd. 6 (2014), Nr. 2, S. 19–36, hier: S. 26.
  13. Diese Fotografie wird in der Forschung unterschiedlich gedeutet. Freedberg geht davon aus, dass die spirituelle Macht der Maske durch das Posieren verloren geht (Freedberg, David: Warburg’s Mask: A study in Idolatry, in: Mariet Westermann (Hrsg.): Anthropologies of Art, New Haven 2005, S. 12–14.). Lange und Fleckner sehen das nicht vollständige Aufziehen der Maske als Zeichen von Respekt und die Geste nur als symbolische Andeutung, nicht als Einverleibung (Lange, Barbara: Indianer sein: Von der Sehnsucht nach dynamischer Existenz bei Aby Warburg und Marden Hartley, in: Änne Söll und Gerald Schröder (Hrsg.): Der Mann in der Krise? Visualisierungen von Männlichkeit im 20. und 21. Jahrhundert, Köln 2015, S. 19–36, hier: S. 28; Fleckner, Uwe: Aby Warburgs amerikanische Reise. Vom »illustrierten Tagebuch« zur kulturpsychologischen (Selbst)Betrachtung, in: Warburg, Aby: Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika. Vorträge und Fotografien, hrsg. von Uwe Fleck-ner, (Gesammelte Schriften, Bd. III, Nr. 2), Berlin 2018, S. 1–23, hier S. 7).
  14. Cestelli Guidi, Benedetta: Aby Warburgs Reise nach Amerika in Photographien, in: Benedetta Ce-stelli Guidi und Nicholas Mann (Hrsg.): Grenzerweiterungen. Aby Warburg in Amerika. 1895–1896, Hamburg 1999, S. 28–47, hier S. 38.
  15. Klant, Michael; Kubiak, Thomas: Praxis Kunst. Fotografie, Braunschweig 1998, S. 8.
  16. Cestelli Guidi 1999, (wie Anm. 14), S. 38.
  17. Despoix 2014 (wie Anm. 12), S. 19.; Bredekamp 2019 (wie Anm. 1), S. 58.
  18. McEwan, Dorothea: Zur Entstehung des Vortrages über das Schlangenritual: Motiv und Motivati-on/Heilung durch Erinnerung, in: Cora Bender, Thomas Hensel und Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Schlan-genritual. Der Transfer der Wissensformen vom Tsu’ti’kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag, Berlin 2007, S. 267–282, hier: S. 269; Bredekamp 2019 (wie Anm. 1), S. 58.
  19. Aby Warburg. Von Michelangelo bis zu den Puebloindianern, hrsg. v. Kulturforum Warburg, mit Beitr. von Ernest H. Gombrich, Hamburg 1991, S.13.
  20. Ladwig/Treml/Weigel 2010 (wie Anm. 3), S. 567.
  21. Warburg 1988 (wie Anm. 5), S. 65; Cestelli Guidi 1999, (wie Anm. 14), S. 33.
  22. Despoix 2014 (wie Anm. 12), S. 20.
  23. Warburg, Aby, A Lecture on Serpent Ritual", in: Journal of the Warburg Institute II (1938–39), S. 222–292.
  24. Cestelli Guidi 1999, (wie Anm.14), S. 7, 33.
  25. Jones 1999 (wie Anm. 9), S. 50.
  26. Despoix 2014 (wie Anm. 12), S. 19.